Emotionale Beweglichkeit

Bild: Schenkung Jehuda Bacon, Jerusalem / Kunstsammlungen der Diözese Würzburg, in Pfarrbriefservice

Ein Impuls zur kommenden Fastenzeit

Die Schockstarre löste sich nur langsam wieder nach dem Auffahrunfall. Diagnose leichtes Schleudertrauma. Das ist eine Reaktion des Körpers – oft im Bereich der Halswirbelsäule – auf den Unfall. Und es ist auch eine Reaktion der Seele auf den Schreck. Beides braucht Zeit, um sich wieder zu lösen. Das mag stark laienhaft formuliert sein, doch weist es auf etwas Wichtiges hin, was wir in schwierigen Situationen oder überhaupt zum Leben täglich brauchen: „Emotionale Beweglichkeit“.
Ich lese gerade das gleichnamige Buch von Susan David. Sie beschreibt, was uns erstarren lässt, welche Mechanismen dabei am Werk sind und wie wir uns daraus lösen können. Zwischen Reiz und Reaktion ist ein Raum, in dem wir die Freiheit und die Macht haben, unsere Reaktion zu wählen. Das beschäftigt mich aktuell sehr, wie ich auf die vielen Reize, die auf mich einströmen, emotional beweglich bleiben kann – wie es mir gelingen kann, nicht zu erstarren in bestimmten Reaktionsweisen und Mustern.

Susan David beschreibt als ein Reaktionsmuster den Monkey Mind: die innere Quasselstrippe, unser inneres Kopfkino, das beginnt. Das dürfte jede und jeder von uns schon einmal erlebt haben. Wir reden und reden immer über die gleiche Situation, ohne dass sich dabei etwas für uns verändert. Oder wir gehen davon aus, dass ein und derselbe Reiz immer nur ein und dieselbe Reaktion in uns auslösen kann, was dann irgendwann zum k.o. führt, zur Resignation oder Wut oder zum inneren Rückzug.
Corona, die täglich neuen Nachrichten, die unentwegten neuen Regeln, einmal Erleichterungen und wieder Verschärfungen, können einem in der emotionalen Reaktion total blockieren und das immer gleiche Kopfkino in Gang setzen; sie können uns gefangen nehmen. Susan David sagt, dass wir wählen können, wie wir auf unser emotionales Warnsystem reagieren.

Was sie da sagt, überzeugt mich; das ist mehr als positives Denken. Das ist die Möglichkeit, in ein und derselben Situation beweglich zu bleiben, zwischen verschiedenen Reaktionen wählen zu können ohne einfach festgelegt zu sein. Dabei geht es um Übung. Ich probiere das immer wieder gerne aus.
Emotionale Beweglichkeit entdecken wir bei den Menschen der Bibel. Die Jünger und Jüngerinnen Jesu wurden zu Menschen in der Nähe Jesu, weil sie sich auf sein „Kommt und seht“ eingelassen haben (Johannes 1,35-42). „Kommt und seht, was ich mit dem Reich Gottes meine.“ Dieses „Kommt und Seht“ brauchte damals und braucht heute die täglich neu gelebte emotionale Beweglichkeit, um bei den vielen Streitgesprächen Jesu, Heilungen und Gleichnissen in der Spur zu bleiben und immer tiefer hineinzuwachsen in das Reich Gottes.

Für dieses Hineinwachsen gilt jeden Tag, was Henry Stanley Haskins einmal sagte: „Was hinter uns liegt und was vor uns liegt, sind nur Kleinigkeiten im Vergleich zu dem, was in uns liegt. Und wenn wir das, was in uns liegt, nach außen in die Welt tragen, geschehen Wunder.“ (1875 - 1957, US-amerikanischer Börsenmakler und anonymer Verfasser von Aphorismen). Das ist emotionale Beweglichkeit pur, die Grenzen überschreitet. Und übrigens: Meiner Kollegin geht es nach dem Auffahrunfall wieder gut. 

Allen eine gesegnete Fastenzeit.

Claudia Hofrichter, Geistliche Leiterin im DV Rottenburg-Stuttgart