Du bist ein Gott, der mich sieht

Bild: Claudia Hofrichter

Ein Impuls im März von unserer geistlichen Leiterin im Diözesanverband, Claudia Hofrichter.

„Ich habe keine Kontrolle darüber, was andere von mir denken, aber ich habe 100 Prozent Kontrolle darüber, was ich von mir selbst denke, und das ist so wichtig.“  

Die amerikanische Sängerin und Songwriterin Beth Ditto (*1981) hat das gesagt. Hinter solch einer Aussage stecken Erfahrungen. Manches können wir nur erahnen. Anderes ist bekannt. Beth Ditto hat sich eine Zeit lang durch das Leben gekämpft. Aufgewachsen ist sie in einer Armensiedlung zusammen mit sieben Geschwistern. Sie hat Missbrauch und eine wechselvolle Kindheit erlebt. Später war sie zuerst mit einer Frau verheiratet; sie haben sich getrennt; jetzt ist sie mit einem Mann verheiratet. Sie leidet unter chronischer Sarkoidose. Sie ist Frontfrau der Band Gossip. Bekannt ist sie für ihr Übergewicht und ihre spontanen, teils irritierenden Aktionen während ihrer Auftritte. Soweit im Staccato Stil einige biographische Hinweise.

Eine außergewöhnliche Frau, die ihren Weg gefunden hat und ihn geht. Wer in den Augen mehr traditionell lebender und denkender Menschen ein eher unstetes Leben führt, in den Augen derer, die gerne experimentieren im Leben, up to date daherkommt, ist dem Urteilen und Reden anderer ausgesetzt. Ähnliche Erfahrungen kennt jede und jeder von uns. Jede und jeder hat einmal die Erfahrung gemacht, beurteilt oder gar in Schubladen eingeordnet und verurteilt zu werden oder auch übersehen oder nicht mehr angesehen zu werden.

Solche Erfahrungen sind schmerzhaft. Ob Beth Ditto eine religiöse Frau ist, weiß ich nicht. Mir hilft die Erfahrung von Hagar, der Sklavin, die sich als Leihmutter für Sara, die keine Kinder bekommen konnte, zur Verfügung stellte. Sie macht unerwartet die Erfahrung: „Du bist ein Gott, der mich sieht“ (Genesis 16,13). In ihrer Verzweiflung über die Ungerechtigkeit Saras ihr gegenüber, und in ihrer Not, dass sie Sara nicht mehr respektieren kann, flieht sie in die Wüste. Ein Engel erscheint ihr und schickt sie zurück zu Sara und Abraham. Was für eine Zumutung! Genau in dieser Zumutung lernt sie, ihre Situation neu zu sehen und zu deuten. Sie spürt durch ihre Schwangerschaft und durch ihren steinigen Weg, dass Gott sie ansieht, dass Gott ihr Ansehen verleiht. „Ismael“ wird ihr Sohn heißen: „Gott hat meine Not gesehen“. Welch‘ eine Verheißung! Hagar traut ihr. Hagar lernt, über sich selbst wieder gut zu denken. Und siehe, sie wird zum Segen für Abraham und der Verheißung Gottes, ihn zum großen Volk Gottes zu machen.

Versteckt sich Gott – frage ich mich immer wieder? Versteckt sich Gott und wartet ab? – Und was verändert sich, wenn ich weiß, dass Gott mich sieht? Hagar hat es erlebt. Dieser Erfahrung will ich trauen. Dieser Erfahrung dürfen wir alle trauen. Viele unserer Kolpingsfamilien sind in dieser unruhigen gesellschaftlichen Zeit in Aufbruchsstimmung und Sorge zugleich. Lassen wir uns tragen von der Verheißung Gottes, dass er uns sieht, uns Ansehen schenkt, auf uns achtet und unseren Weg mit uns geht und unsere Aufbrüche begleitet.

Die Delegierten bei der Diözesanversammlung am 11./12. März werden diese Verheißung Gottes mit zurück nach Hause bringen. Sie werden mit nach Hause bringen, dass wir unseren Auftrag „Zusammen sind wir Kolping“ mit unserem Gott an der Seite und Auge in Auge verwirklichen werden. Was und wie wir über uns selbst und unsere Kraft denken, ist entscheidend.

Claudia Hofrichter, Geistliche Leiterin im Diözesanverband Rottenburg-Stuttgart