Es kann kein Zufall sein, dass mir die Hymne „Abide with me“ in diesem Jahr ungewöhnlich oft begegnet. Grund genug, genauer hinzusehen und hinzuhören.
Der anglikanische Pfarrer Henry Francis Lyte (1793-1847) hat den Text geschrieben, gesungen wird es heute auf eine Melodie von William H. Monk. Lyte litt an Tuberkulose und wusste, dass er nicht mehr lange leben würde. Eines Abends, als er in seinem Garten saß, wurde das Lied in seinem Herzen geboren. In der ersten Strophe heißt es:
Abide with me, fast falls the eventide
The darkness deepens Lord, with me abide
When other helpers fail and comforts flee
Help of the helpless, oh, abide with me
Bleib bei mir, Herr, der Abend bricht herein,
bald ist es Nacht, o lass mich nicht allein.
Wenn alles flieht, wenn jede Stütze bricht,
Du, der Verlass’nen Abide with me Trost, verlass mich nicht.
Welch‘ werbende Hinwendung zu Gott in einer Situation, die mehr als aussichtslos ist. Welch‘ ein Vertrauen auf Gott als der einzigen Stütze, die trägt, wenn nichts mehr Hoffnung schenkt und niemand mehr tragen kann. Welch‘ ein Vertrauen, wenn man spürt, dass die Kraftvorräte aus der eigenen Tiefe des Herzens die einzigen sind, die jetzt noch Nahrung geben, um den eigenen Weg mutig und getröstet zu gehen.
Es ist ein Novemberlied – ein Lied für den Monat, in dem wir immer wieder auf die Endlichkeit des Lebens gestoßen werden – ob im Kreislauf der Natur von Werden und Vergehen, ob im menschlichen Lebenszyklus von Veränderung und Wandlung. Es ist ein Lied für all diejenigen überall auf der Welt, die Trost suchen, weil ihre Lage so verzweifelt ist. Für die Hungernden und Dürstenden in den Dürregebieten, für die Kriegsopfer in den vielen Krisengebieten der Welt, für die Kranken, die wissen, dass es keine Heilung gibt und die ihren Weg schweren Herzens gehen, für die Unglücklichen, die sich danach sehnen, dass sie jemand an die Hand nimmt.
Es ist auch ein österliches Lied, wenn es in der letzten Strophe heißt: „Es tagt, die Schatten fliehn, ich geh zu dir. Im Leben und im Tod, Herr, bleib bei mir!“ Der Sterbende geht hinein in das Licht Gottes und findet seine Vollendung.
Mich trösten diese Zeilen. Die Melodie gibt mir das Gefühl, in Gottes Händen geborgen zu sein. Ich spüre, wie ich verwandelt werde und ich spüre meine tiefe Sehnsucht, mich an Gott halten zu können und gehalten zu sein.
Claudia Hofrichter, Geistliche Leiterin im DV Rottenburg-Stuttgart