An dem Bauzaun gegenüber meinem Hotel in Frankfurt steht in großen Lettern „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Eine Lücke im Bauzaun unterbricht den Schriftzug und es wird daraus „Die Würde des Menschen ist antastbar.“
Herausgerissen aus meiner Ruhe, fallen mir unweigerlich viele Situationen ein, in denen die Würde des Menschen antastbar geworden ist. Was so selbstverständlich sein sollte, wird so oft mit Füßen getreten. Auch wenn man gerne wegschauen möchte, weil es einem zu viel wird. Nein, wir schauen nicht weg! Menschen müssen gesehen werden und Aufmerksamkeit erhalten. Menschen mit ihrer Geschichte wahrzunehmen und ihnen alle Unterstützung für ein gutes Leben anzubieten, ist etwas anderes als sie als Problem der Gesellschaft und des Stadtbildes zu sehen. Menschen, die Opfer sexueller Gewalt durch Kindesmissbrauch, häusliche Gewalt oder durch Vergewaltigung im Krieg werden, brauchen die Anerkennung ihres Leids und alle Bereitschaft der Gesellschaft, alles zu tun, dass sie Heilung an Leib und Seele erfahren, so gut das möglich ist. Menschen, die den Kriegstreibern nicht ausweichen können und als Kinder schon zu Soldaten umerzogen werden, müssen den Widerstand aller Menschen guten Willens hervorrufen. Die Würde des Menschen ist antastbar geworden, wenn wichtige Werte wie Gemeinwohl und Liebe, wie Demokratie und Gerechtigkeit sich verflüchtigen.
Wir feiern Allerheiligen. Wir feiern die Heiligkeit des Menschen und damit seine Würde, über der nichts steht. Als Schöpfung der schöpferischen Gottheit sind wir Menschen Botschafter der Würde. Wir kennen dabei die Ambivalenzen des Lebens, wir wissen um die Spannungen zwischen den Polen belastender Themen und Fragen. Wir haben Erfahrung mit der Neigung zu einem immer höher, schneller, weiter. Wir kennen die Verführung zur Macht. Als Botschafter der Würde haben wir gelernt – und tun es jeden Tag neu, den Ausgleich zu wählen, die Balance zu suchen und auf Lösungen ausgerichtet zu sein. Als Kolpingmenschen wählen wir das Leben und stehen auf gegen Ungerechtigkeit. Der November mit seinen wichtigen Gedenktagen wie dem Volkstrauertag und dem 9. November, dem Gedenktag der Reichsprogromnacht 1938, ist eine Vergewisserung, dass die Würde des Menschen heilig ist.
Claudia Hofrichter, Geistliche Leiterin im DV Rottenburg-Stuttgart