Hanna und Simeon sind zwei alte Menschen. Sie kennen sich schon viele Jahre; sie sehen sich jeden Tag. Sie teilen ein Stück des Lebens miteinander als sich plötzlich etwas ganz Außergewöhnliches und Überraschendes in ihrem Leben ereignet. Sie beschreiben das als das große Wunder ihres Lebens. Nein, die beiden sind kein altes Ehepaar, das Enttäuschungen durchlitten hat und nun das Glück des Lebens doch noch findet. Die Rede ist vom alten Simeon und der Prophetin Hanna. Im hohen Alter lernen sie Jesus kennen, als seine Eltern ihn als Baby in den Tempel bringen, um ihn Gott zu weihen und das übliche Taubenopfer darzubringen.
Darauf warteten Hanna und Simeon schon ein Leben lang. Sie warteten auf den verheißenen Messias. Als Maria und Josef mit dem Kind in den Tempel kommen, da ahnen sie es plötzlich – nein, sie sind sich sicher: Im Kind Jesus ist der Retter der Welt angekommen. Unsere Hoffnung hat sich nun, da wir alt geworden sind, doch noch erfüllt; wir dürfen es noch erleben; welch ein Segen. „Meine Augen haben das Heil gesehen“ – ruft Simeon auf diese Überraschung. Er ist zuerst bei dem Kind und seinem Eltern, die von dieser Begegnung wohl ebenso überrascht wie angetan sind.
An welchem Ort im Tempel Hanna auf die Familie trifft, wissen wir nicht. Man hat ein wenig das Gefühl, sie tritt aus dem Schatten des Simeon heraus. So wie es damals oft die Rolle von Frauen war, dass sie sich eher im Hintergrund befanden und durch eine besondere Situation erst herauskommen. So erging es wohl auch Hanna – erst recht mit ihrer besonderen Lebensgeschichte.
Schauen wir ein wenig auf sie. Wir wissen viel von ihr. Sie ist die Tochter Penuels aus dem Stamm Ascher. Sie hat viel mitgemacht in ihrem Leben. Sie hatte wie alle Frauen jung geheiratet und war schon nach wenigen Jahren Witwe geworden. Witwen gehörten damals zusammen mit den Waisen zu den Schwächsten in der Gesellschaft. Sie waren auf fremde Hilfe angewiesen, denn ein gutes Sozialsystem, wie bei uns heute, gab es noch nicht. Sie führten ein Leben am Rande der Gesellschaft. Und wie sehr muss Hanna unter dem Verlust ihres Partners gelitten haben. Ich vermute, dass sie in ihrer Seele Dunkelheit verspürt hat, dass sie sich einsam und allein fühlte in ihrem tiefen Schmerz. Und gleichzeitig muss da noch etwas anderes gewesen sein. Allem zum Trotz war sie ständig im Tempel, um Gott mit Fasten und Beten zu dienen. Da bekommt man als moderner Mensch von heute zunächst das Gefühl, dass das noch mehr an Entbehrungen bedeutet. Fasten heißt verzichten. Und andauernd Beten – na ja, das kann etwas viel werden. Doch es heißt auch, erneuert und stark werden. Vermutlich hat sie genau das erfahren: dass ihr Fasten und Beten ihr eine neue Form der Erfülltheit schenkt, dass nicht mehr die Entbehrungen im Vordergrund sind, nicht mehr die Trauer im Mittelpunkt steht, sondern ihr Glaube und ihre Hoffnung auf den lebendigen Gott Israels. Dafür lohnt es sich weiter zu leben. Ihr Schicksalsschlag hat sie nicht weg, sondern näher zu Gott gebracht. Selig, wer das von sich sagen kann.
Das ist das erste, was diese Frau zur Prophetin macht. Sie verkündet uns ohne Worte, dass es sich lohnt auf Gott zu vertrauen, wenn einem das Schicksal übel mitgespielt hat. Eine Zeit des Klagens und Trauerns muss sein, doch dann gilt es, das Leben wieder in die Hand zu nehmen und mutig voranzugehen und zu schauen, wo der eigene Platz ist. Hannas Weg führte in die ständige Gegenwart Gottes. Jede und jeder von uns kann sich nach einer tragischen Lebenssituation immer neu ausrichten an Gott, der tröstet und befreit.
Und dann machte unsere Hanna noch eine Erfahrung, die sie wohl auf Wolke Sieben schweben lässt. Sie erkennt im Kind Jesus den Erlöser, auf den alle schon so lange warteten. Ihr Lobpreis und ihre genaue prophetische Rede sind uns nicht überliefert. Wichtig ist der kleine Hinweis, dass ihre Rede sich an alle richtet, die im Tempel sind. Simeon hatte nur mit der kleinen Familie gesprochen. Mutig geht sie an die Öffentlichkeit. Fasziniert erzählt sie vom Retter Israels. Wir können erahnen, dass sie noch einmal ihre Lebensgeschichte neu erzählt. Und dass sie die Erfahrungen der Menschen, denen sie in den über 60 Jahren ihres Witwenlebens im Tempel begegnet ist, noch einmal neu als Heilsgeschichten erzählt. Wie oft sagen wir das in unserem Leben, dass sich Puzzleteile erst viel später zu einem Ganzen zusammenfügten und ein Bild ergaben, das in unser Leben passt.
Hanna ist für mich Prophetin durch und durch. Diese alte weise gewordene Frau lenkt meinen Blick auf das Wesentliche in meinem Leben. Nämlich, dass ich mit Jesus Christus leben möchte, dass ich ihm nachfolgen möchte, dass ich den Mund aufmachen will, wo es gilt Farbe zu bekennen, dass ich immer mehr eintauchen möchte in das Evangelium. Diesen prophetischen Weg wünsche ich uns allen.
Claudia Hofrichter, geistliche Leiterin DV Rottenburg-Stuttgart